Internationaler Hermann-Hesse-Preis 2016 an Luiz Ruffato und Michael Kegler verliehen! Laudatio von Ilija Trojanow

Querido Luiz Ruffato, lieber Michael Kegler, einen schönen guten Abend ins Rund,

hinter den Nachrichten lauert die Literatur. Anders ausgedrückt: Die Literatur leuchtet, wo selbst die Sonne nicht hinscheint. Und die Sonne scheint immer in Brasilien, zumindest in den Bildern, denen wir ausgesetzt sind, denen wir uns schwer entziehen können: fußballspielende Jungs am Strand, Tanga und Samba, die Eleganz von Gisele Bündchen und die Rasanz von Ayrton Senna, in letzter Zeit vermischt mit politischer Brisanz: Putsch, Zika, Korruption. Und dazwischen ein Ereignis, das den Figuren von Luiz Ruffato mit Sicherheit nicht zugutekommen wird: die Olympischen Spiele. Es sind einfache Leut’, wie man so verlogen sagt, obwohl sie nicht einfach gestrickt und ihre Lebensumstände alles andere als einfach sind. Es sind die Lastenträger der aufstrebenden Weltmacht Brasilien, die Frauen gefesselt an die Nabelschnur unzähliger Schwangerschaften, die Männer voller Läuse, blauer Flecken und Wut. Sie gehen ihrem Alltag nach, nein, sie hecheln husten hasten durch ihr Leben, und wenn sie innehalten, reden sie, explodieren sie. Wie Miniaturen sind sie oft mit wenigen Strichen gezeichnet, ähnlich den Randfiguren in alten Schlachtgemälden, die einen Schrecken sichtbar machen, der alles andere als marginal ist.
„Vorläufige Hölle“ lautet der Untertitel des zentralen Romanzyklus von Luiz Ruffato. Sie ist vorläufig, aber sie dauert an, Jahr um Jahr, lebenslänglich. Die Hölle ist dort, wo das Vorläufige dauerhaft ist. Hölle, nicht die aus dem Katechismus, wo Flammen Verdammte peinigen, Sünder mit dem Dreizack gequält werden und Schreie verspäteter Reue gellen, sondern eine andere, inszeniert in dem hinter dichten Bambusgestrüpp gestrandeten Haus, wo Erosion und Ameisenstraßen zusammenfließen, winzig von oben von der Weide aus gesehen und herrisch vom knorrigen Fußboden aus.
Diese Literatur schwitzt, sie macht sich die Hände schmutzig; es ist ein schwarzer Rand unter den Fingernägeln der Sätze. Alles ist verstärkt und verdichtet, den Lesern wird eine hohe Dosis verabreicht, manchmal nur eine Wortpille entfernt von der Überdosis. Deswegen, aber nicht deswegen allein, verliert der Leser manchmal die Orientierung, steht an einer wuseligen Kreuzung des Lebens, zweifelhafte Errettungsangebote zuhauf, „Ach je, ein Monstrum“, sekundieren im Falsettton zwei Burschen, die mit Aktentaschen unter dem Arm vorbeigehen, aus allen Richtungen brausen die Erlösungen heran, schau auf die Brüder, die leiden … die verzweifelt die höchsten Hochhäuser erklimmen … die sich ohne Hoffnung verkriechen in Einsamkeit … Bei Ruffato wird man von der Kakophonie davongetragen und hört dabei die einzelne Stimme, die aus der Wüste ruft, leidend wie seit eh und je, aber ohne Aussicht auf Erlösung. Sein Blick ist unversöhnlich, aber nicht unbarmherzig. Wenn es einen Berührungspunkt mit dem Werk von Hermann Hesse gibt, dann ist es diese Empathie, getragen von einer Emphase der Sprache.
Denn die Textarten in seinen Romanen sind so vielfältig wie die Figuren, derart unterschiedlich, dass der Satzspiegel sich gelegentlich wie ein typografisches Chamäleon verändert.
Im Furor der brodelnden Gemengelage überholen die Nebensätze die Hauptsätze. Diese vermeintlichen Turbulenzen sind nicht außer Rand und Band, im Gegenteil: Tempo und Tonalität sind stets austariert, auch wenn es bis zum Anschlag geht. Ein präzise geschlagener Rhythmus findet seine Entsprechung in der Genauigkeit der konkreten Fakten. Liegt ein Buch auf seinem fiktionalen Tisch, so weiß Ruffato von seinen Eselsohren. So dicht ist sein Wissen, es wird von Zeit zu Zeit in eine Aufzählung gegossen, manchmal wie ein Fluss, manchmal wie eine Skulptur. Hören wir hinein, in das Radio Ruffato … (leise) tagsüber schäbig in grobem Leinen und gestreiftem, langärmligem Hemd, harte Stiefel am Fuß, mit einem fransigen Strohhut und am Gaumen klebend die filterlose Zigarette, doch später (…) verwandelte er sich in einen Anderen, hochmütig auf dem Göricke-Fahrrad mit Rückspiegel und tring tring Klingel am Lenker, Griffe mit bunten Fransen, Nabenputzer, Spritzlappen und dem Wappen von Botafogo am Sattelschoner, Dynamoscheinwerfer, mit sauberer Kleidung, strahlenden Zähnen, sorgfältig mit Brylcreme geglättetem Haar und einfachem Parfum auf dem Kragen die fünf Straßen erobernd, Nabend, nabend, respektvoll die Finger an die Krempe gelegt, aus der Ferne das Schwätzen belauschend, den Streit, ein Gelage, Lästerei, Heiterkeit, mit sich selbst redend auf den Feldern und Weiden des Alto do Cruzeiro auf der Staubstrasse, ein Pferdewagen, ein Willy’s Rural, Reiter, ein Fußgänger oder auch niemand.
Das zu übersetzen ist alles andere als einfach. Man könnte die Arbeit des Übersetzers mit der eines Maßschneiders vergleichen. Der Stoff der eigenen Sprache wird dem Körper des fremden Texts angepasst, idealerweise bis er perfekt sitzt. Oft schaut die neue Kleidung aber anders als erwünscht aus, vorn spannt es arg über der Brust, hinten auf dem Rücken wirft es grobe Falten. Eines Tages, vielleicht kennen Sie die Geschichte, ließ sich ein Herr einen neuen Anzug machen, für einen besonderen Abend in der Oper. Leider hatte der Schneider schlampig gearbeitet, die Ärmel waren zu lang, die Hosenbeine zu kurz. Kein Problem, verkündete der Schneider, wenn Sie die Arme strecken und die Beine einziehen, sitzt es ordentlich. Betrübt begab sich der Mann in die Oper, humpelte und zuckte, um zu verbergen, wie schlecht der Anzug saß. Zwei ältere Männer betrachteten ihn in der Pause. „Der arme Mensch“, sagte der eine. „Ja“, erwiderte der andere, „aber was für einen großartigen Schneider er hat.“ Schlechte Übersetzer sind wie dieser Schneider. Gute Übersetzer machen aus Haut Stoff. Einer der besten ist Michael Kegler, dessen Sprachanwandlungen und Wortschmuggeleien wir Kenntnis von wunderbaren brasilianischen und afrikanischen Autoren verdanken.
Die Kunst der Übersetzung liegt im Rhythmus. Nehmen Sie das Beispiel einer ganz einfachen Gedichtzeile von Gertrude Stein: „A rose is a rose is a rose is a rose.“ Auf Deutsch ist der Rhythmus sogleich perdu: „Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose ist eine Rose.“ Im Englischen blüht sie, im Deutschen wird sie beim Floristen geordert. Im Schwäbischen übrigens haben Sie ein weitaus geringeres Problem: „A roz isch a roz isch a roz isch a roz.“ Die Synkopen von Luiz Ruffato stellen den Übersetzer, das spürt auch ein des Portugiesischen unkundiger Leser, vor besondere Herausforderungen. Semantik und Idiomatik beugen sich der Willensstärke des Übersetzers (auch darin ist Michael Kegler ein Meister, etwa: „Ihre Jugend durch den Unterleib verrinnend …“); der Rhythmus aber ist eigener noch, schlägt stur durch den Sprachtransfer hindurch, trommelt sich in die andere, in die fremde Sprache hinein, könnte Unstimmigkeit verursachen, spürbare Differenz. Wenn Ruffatos Literatur danach verlangt, laut vorgelesen zu werden – wovon ich überzeugt bin –, dann besteht der Lackmustext darin, ob es einen auch auf Deutsch dazu drängt. Hören wir also wieder hinein, ins Radio Ruffato mit DJ Kegler … ein christuskind so wie es da liegt gar nicht wie ein kind lange blonde haare der bart erwachsene braune augen ein jesuskind wie gedruckt an einem sonnigen sonntag gekauft auf dem markt auf der praça da republica ein junge der sich zornig ausprobiert im einmaleins der dinge guter junge in mathematik und physik und chemie gut in portugiesich in englisch advanced feiner junge mit muskeln vom taekwondo netter junge der seiner mutter den wagen schiebt im supermarkt und sich amüsiert wenn sie trödelt zwischen den regalen registrierkasse addiert subtrahiert multipliziert dividiert bis sie ganz durcheinander ist von all den zahlen und die geduld verliert und nicht mehr auf preise gewichte verfallsdatum schaut und nachdem alles in die schränke gestopft ist sitzen sie müde im wohnzimmer und schauen die fernsehnachrichten und balancieren teller mit dem was vom mittag noch übrig ist in der hand füße auf dem couchtisch in diesen momenten
Vier Bände hat Michael Kegler von Luiz Ruffato übersetzt, weitere werden bestimmt folgen. Er schöpft sprachlich aus dem Vollem, findet für jedes Stilregister eine Entsprechung, für jeden Dialog und Monolog – und davon gibt es viele – eine lebhafte gesprochene Sprache. Jeder Satz strotzt bei ihm voller Saft und Kraft: Lyrisches, Derbes, Pathetisches – es ist ein Genuss, dieses Deutsch zu lesen und zu spüren, wie nahe es einen an das Original heranträgt – herrlich heranträgt.
Der erste Band der vorläufigen Hölle endet wie folgt: Silvana … setz dich hierher … hier … ja … Ich will dir etwas erzählen … etwas, das du niemandem sagen darfst, hörst du?, niemandem … Es ist … Es ist ein Geheimnis … Hör zu:
Das Buch endet mit einem Doppelpunkt. Das kann sich ein Autor nur leisten, wenn er zuvor sehr viele Ausrufezeichen gesetzt hat.
Parabéns und Glückwunsch!
Ilija Trojanow

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