„Es wäre ein verlegerisches Verbrechen ...«

„Es wäre ein verlegerisches Verbrechen, Mikes Bücher nicht zu übersetzen und herauszugeben.“
Kommentar zu Mike Davis’ „Festung L.A.“
(2006 [1990])

Rainer Wendling, Stefan Höhne, Boris Michel


Dass Mike Davis schon seit den 1990er-Jahren auch hierzulande kein Unbekannter ist, verdankt sich nicht zuletzt engagierter Verlagsarbeit.
Insbesondere der Verlag Assoziation A hat mit der Übersetzung und Veröffentlichung von City of Quartz (1994) und weiteren Büchern entscheidend dazu beigetragen, dass Davis’ Analysen auch in der deutschsprachigen Stadtforschung bis heute diskutiert werden.
Damals firmierte das Verlagshaus noch als Verlag der Buchläden Schwarze Risse, Berlin/Rote Straße, Göttingen. 2001 bildete man gemeinsam mit dem Verlag Libertäre Assoziation, Hamburg den Verlag Assoziation A mit Sitz in Berlin und Hamburg. Bis heute beweist der Verlag ein beeindruckendes Gespür für wichtige Themen und Autor*innen im Bereich antiautoritärer und kritischer politischer Literatur.
Wir sprechen mit Rainer Wendling über die Veröffentlichung von City of Quartz, die Reaktionen darauf sowie den Einfluss von Mike Davis auf stadtpolitische Kämpfe und Analysen in Deutschland.

Wie wurdet ihr damals auf Mike Davis aufmerksam und wie kamt ihr dazu, City of Quartz zu übersetzen und herauszugeben?

Der konkrete Anlass waren zweifellos die tagelangen riots in Los Angeles 1992, deren tiefer liegende Ursachen Mike Davis in seinem Buch so eindrucksvoll beschrieben hatte. Mike kannten wir bereits als Autor des 1986 bei Rotbuch erschienenen Buches Phönix im Sturzflug. Auf City of Quartz stießen wir durch unsere damaligen Göttinger Verlagskolleg*innen.
Nachdem wir uns das Buch genauer angeschaut hatten, fiel die Entscheidung, es unbedingt auf Deutsch herausgeben zu wollen, nicht schwer. Um das deutschsprachige Copyright mussten wir dann aber doch noch etwas kämpfen, weil ein großer deutscher Verlag plötzlich auch sein Interesse bekundete.

Wie passte das Buch in die linken Diskussionen und das politische Klima der 1990er-Jahre?

Das Erscheinen von City of Quartz fiel in den Kontext zahlreicher schmerzhafter Niederlagen im Kampf um Wohn- und Stadtraum, der ja immer auch ein Kampf um Freiräume zur Erprobung neuer Lebensformen jenseits kapitalistischer Verwertungsinteressen ist. Gerade für Berlin war es zugleich eine Zeit der sich bereits abzeichnenden tiefgreifenden stadträumlichen Veränderungen sowie der Hoffnung auf neue soziale Kämpfe in der Stadt. Der Fall der Mauer und die Entscheidung, Berlin wieder zur Hauptstadt dieses neuen Deutschlands zu machen, ließen bereits damals erahnen, wie tief sich die anstehenden Kapitalisierungsprozesse ins sozialräumliche Gewebe der Stadt fressen würden – auch, wenn eine Zeit lang mit der (temporären) Aneignung einer Vielzahl von Räumen im Ostteil der Stadt „alles“ möglich zu sein schien.
Nachdem der Höhepunkt der Häuserbewegung in Westberlin jedoch lange überschritten und auch das Ende der Mietpreisbindung für Altbauwohnungen 1988 vollzogen war, kam im November 1990 mit der Räumung der Mainzer Straße nun auch die Hausbesetzer*innenbewegung in Ostberlin an ein Ende. All dies weckte das Bedürfnis, sich dem forcierenden sozialräumlichen Angriff jenseits der konkret zu führenden Kämpfe um Stadt und Raum auch wieder mit einem erweiterten analytischen Handwerkszeug zu nähern.
Zwar gab es bereits seit Ende der 1960er-Jahre Stadtteilgruppen und Stadtteilläden, die versucht hatten, sich theoretisch und praktisch mit den verschiedenen Communities zu verbinden – insbesondere in den migrantisch geprägten Vierteln. Darüber hinausgehende analytische Debatten konnten dort jedoch nur selten geführt werden, auch wenn sie interessiert zur Kenntnis genommen wurden. In den frühen 1990er-Jahren bildeten sich in Berlin erste stadtpolitische Gruppen, die auch einen geschärften analytischen Blick auf die zu erwartenden Veränderungen
des städtischen sozialen Raums werfen wollten. Das Buch war zumindest dazu geeignet, den Debatten neue Impulse zu verleihen.
Aus Großbritannien schwappte damals „Reclaim the Streets“ nach Deutschland: ein loser Zusammenhang von eher künstlerischen und eher politischen Aktivist*innen, die aus der Techno-, House- oder Punk- und Hardcoreszene kamen, aber eben auch aus der Hausbesetzer*innen-, autonomen und Street-Art-Szene. Man wollte über klassische Politaktionen hinaus auch mit Partys, Musik- und Kunstevents den immer mehr zur Privatisierung freigegebenen (öffentlichen) Raum verteidigen beziehungsweise zurückgewinnen.
Die „fordistische Stadt“ war nicht nur durch diverse Mieter*innen- und andere Initiativen (in Berlin ab den 1970ern bspw. durch die Bürgerinitiative Westtangente) von unten angegriffen worden, sie entsprach auch nicht mehr unbedingt den sich ändernden kapitalistischen Verwertungsbedingungen. Diese verlangten nun ein höheres Maß an individueller (Schein-)Autonomie, um sich mit neuen arbeitsorganisatorischen Maßnahmen und Kontrolltechnologien einen tieferen Zugriff auf die Individuen zu verschaffen.

Wie ist City of Quartz damals aufgenommen worden?

Dem Buch wurde von Anfang an große Anerkennung gezollt, und zwar sowohl in der linken als auch in der akademisch-bürgerlichen Debatte. Die Rezensionen auch von größeren Zeitungen fielen durchweg positiv bis begeistert aus. Es ist wohl nicht falsch zu behaupten, dass Mike vor der Veröffentlichung hier nur sehr wenigen Leuten bekannt war. Seit City of Quartz genießt Mike in breiten Kreisen in Deutschland ein sehr hohes Ansehen.
Als linker Theoretiker und Aktivist hat er aber logischerweise immer auch eine gehörige Zahl an Gegner*innen, die ihm oft genug mangelnde „Wissenschaftlichkeit“ vorgeworfen haben. Mike war es immer wichtiger, auf der Seite – um es etwas pathetisch zu sagen – der Unterdrückten und Beleidigten zu stehen, als akademisch-wissenschaftlichen Vorgaben zu entsprechen. In diesem Zusammenhang sagte er einmal: „I’m not a writer’s writer at all, but I am a damn good storyteller.“

Was konnte und kann man von den stadtpolitischen Verwerfungen in Los Angeles, wie Davis sie beispielsweise im Kapitel „Festung L.A.“ eindrucksvoll schildert, für die Situation in Deutschland lernen?

Mike beschreibt in City of Quartz ja unter anderem die soziale und räumliche Spaltung der Stadt, die sich, wenn auch nicht in so krasser Form wie in L.A., auch in deutschen Städten zeigte. Dies galt gerade für Berlin – man denke nur an Gropiusstadt, das Märkische Viertel, Hellersdorf oder Marzahn.
Ab Ende der 1990er-Jahre gingen auch in Deutschland die Städte bei allen erdenklichen öffentlichen Grundversorgungsleistungen vermehrt Public-private-Partnerships ein oder privatisierten sie gleich ganz, wie Berlin ab 2001 unter dem damaligen SPD/PDS-Senat. Nahezu das ganze sogenannte Tafelsilber in Form von öffentlichen Wohnungsbaugesellschaften, städtischen Elektrizitäts- oder Wasserwerken wurde damals verkauft. Auch den Wohnungsmarkt gab man fast komplett für die Privatisierung frei, also auch für Hedgefonds und andere Beteiligungsgesellschaften.
Der soziale Angriff der Kapitalseite wurde hierzulande jedoch nicht primär durch die Absonderung privater Wohnviertel beziehungsweise von Gated Communities mittels Zäunen, Zugangssperren oder Sicherheitsfirmen in die Innenstädte und Wohnviertel getragen, wie anfangs noch vermutet. Sie wirkte und wirkt eher durch die weniger sichtbaren Grenzen sozialer Differenzierung in Form von Gentrifizierung. Dabei befördert sie die Vertreibung der alteingesessenen Bewohner*innen, die sich die hohen Mieten nicht mehr leisten können, den vermehrten Aus- und Neubau zu Luxuswohnungen und so weiter. Das ist ja alles gut bekannt und hat tiefgreifende Folgen für die soziale Zusammensetzung der Kieze. Die in den 1990er-Jahren einsetzenden und durch den Umzug der Regierungseinrichtungen von Bonn nach Berlin sich extrem beschleunigenden Gentrifizierungsprozesse trieben und treiben die Entwicklung sozialräumlicher Trennungen noch einmal extrem voran. Insofern lassen sich Parallelen oder gar Analogien erkennen.
Gegen diese Entwicklungen richtet sich bis heute der Kampf zahlreicher Initiativen wie „Recht auf Stadt“ und „Reclaim Your City“ oder die Bündnisse gegen Zwangsräumungen. Die Versuche, mittels Wohnungs- und Hausbesetzungen wieder in die Offensive zu kommen, sind jedoch durch die in der Regel gewaltsamen polizeilichen Räumungen fast immer gescheitert. Allerdings konnten durch den ideenreichen Widerstand vieler beteiligter Gruppen mit Kampagnen wie „NOlympia Berlin“ in den 1990ern und „NOlympia Hamburg“ Mitte der 2010er oder „Google Campus verhindern!“ Ende der 2010er-Jahre wichtige Auseinandersetzungen in fast schon triumphaler Weise gewonnen werden, bei denen es nicht zuletzt auch um die Umgestaltung des städtischen Raums von oben ging.

Wie kam es zur Entscheidung, weitere Bücher von Davis zu übersetzen, wie den Sammelband Casino Zombies (1999) oder zuletzt Eine Geschichte der Autobombe und Planet der Slums (beide 2007)?

Keine Entscheidung leichter als diese. Bücher wie Die Geburt der Dritten Welt oder Planet der Slums werfen neue und grundlegende Blicke auf Ursachen und Verlauf historischer kapitalistischer Entwicklungen. Und sie sind dermaßen fantastisch geschrieben, dass es geradezu ein verlegerisches Verbrechen wäre, Mikes Bücher nicht zu übersetzen und herauszugeben.
Im Nachhinein lässt sich sagen, dass wir mit City of Quartz den Grundstein für ein nach wie vor sehr wichtiges Themenfeld des Verlags legten, das wir bis heute mit einer Vielzahl weiterer Bücher beackern. Dazu zählen zum Beispiel Bitte Lebn. Urbane Kunst und Subkultur in Berlin 2003-2021, Rebellisches Berlin. Expeditionen in die untergründige Stadt, Gefährliche Orte. Unterwegs in Kreuzberg, Technopolis. Urbane Kämpfe in der San Francisco Bay Area, Mehr als ein Viertel. Ansichten und Absichten aus dem Hamburger Gängeviertel, um nur einige zu nennen.

In eurem Nachruf schreibt ihr: „Mike Davis’ Loyalität galt den Ideen, denen er zeitlebens treu blieb.“[1] Was für Ideen habt ihr da im Blick und welche davon sind heute noch besonders relevant?

Mike hat in allen seinen Schriften den Blick von unten gewahrt und ohne Wenn und Aber aus der Perspektive derjenigen geschrieben, die am meisten und härtesten unter der ungebändigten kapitalistischen Zerstörungswut zu leiden haben. In keiner Weise hat er einem akademisch-intellektuellen Gestus gehuldigt, der oft genug im Selbstreferenziellen verharrt, oder nur den geringsten Wert auf unkritische universitäre Diskurse gelegt. Er kämpfte sein Leben lang an der Seite der Unterdrückten und hat die Hoffnung auf eine grundlegende Veränderung der herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse nie aufgegeben. Passend dazu seine kurz vor seinem Tod geäußerte, halb scherzhafte Sequenz: „Wenn ich irgendetwas bedauere, dann ist es, dass ich nicht im Kampf sterbe oder auf einer Barrikade, wie ich es mir immer romantisch erträumte.“

Das Gespräch führten Stefan Höhne und Boris Michel für die Redaktion
von s u b \ u r b a n.
Stefan Höhne ist Kulturwissenschaftler, Historiker und Teil der Redaktion von
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Boris Michel ist Geograph und Teil der Redaktion von s u b \ u r b a n.